Ist Nackt normal? Nicht mehr! Wir werden prüde
Wir werden prüde. Vor 20 Jahren lagen wir noch oben ohne am Strand, heute kann man die Topless-Frauen dort an einer Hand abzählen. Nach dem Sport duschen wir mit Unterhose und Fernsehshows, bei denen nackte Menschen zu sehen sind, führen zu heftigen Diskussionen. What’s going on?
Wir werden prüde – Kontroverse um Nackt im Fernsehen
Wenn in Fernsehserien nackte Menschen gezeigt werden, stürzen sich sofort die konservativen Parteien darauf, bezeichnen sie als unmoralisch, ekelhaft und sogar pädophil. Petitionen werden gestartet, um solche Programme zu stoppen, selbst dann, wenn sie zum Ziel haben, Nacktheit als etwas Normales wahrzunehmen und das Thema zu enttabuisieren.
Nackt = Sex?
Das Problem ist, dass die Gegner solcher Fernsehshows Nacktheit als Synonym für Sex auffassen. Das ist sie aber keineswegs! Nackt zu sein ist etwas ganz Natürliches; wenn man unter der Dusche steht, ins Bett geht oder sich umzieht. Den eigenen Körper kennenzulernen, sich für seinen Körper nicht zu schämen und sich bewusst zu werden, dass jeder Körper anders ist, hat absolut nichts mit Sex zu tun.
Die Sozialwissenschaftlerin Linda Duits nennt in einem Online-Magazin zum Vergleich die immer wiederkehrende Diskussion um Grundschulmädchen mit Hotpants. Lehrer könnten darin etwas Sexuelles sehen, obwohl es für die betreffenden Mädchen einfach nur ein hippes Kleidungsstück ist; schön kühl im Sommer. Sie sagt, dass immer mehr Menschen Nacktheit mit Sex gleichstellen, wodurch wir zu einer zunehmend prüderen Gesellschaft werden.
Schlingernde Bewegung
Früher war wir weniger verklemmt, sagen die Befürworter entsprechender Fernsehshows und die Unterstützer des Oben-Ohne am Strand. Vor den bewegten 60er Jahren waren wir natürlich noch um einiges prüder als heute, seitdem wir aber den BH an den Nagel gehängt haben, waren wir frei und erleuchtet. Niemand wunderte sich mehr über einen nackten Busen hier und da und niemand kämpfte mit irgendwelchen Stilltüchern. Zumindest, bis diese neue Verklemmtheit sich breit machte.
Ist das aber wirklich der Gang der Dinge gewesen? Waren wir vor den Sixties wirklich so unwissend und prüde? Die Expertinnen Anais Van Ertvelde und Heleen Debruyne betonen, dass die Geschichte nicht so einfach als geradlinige Entwicklung gesehen werden kann. Sie bezeichnen sie eher als schlingernde Bewegung, bei der sich immer prüde Zeiten mit Zeiten von (sexueller) Freiheit abwechselten. Sie weisen z.B. auf einen ‘Lobsang auf die Vagina’ hin, der aus dem 15. Jahrhundert stammt und auch auf die Tatsache, dass man bereits im Mittelalter wusste, dass die Klitoris ein wesentlich größeres Organ ist als der sichtbare ‘Knubbel’; etwas, das unsere Großeltern wieder komplett neu entdecken mussten.
Wir werden prüde – Griechische Gymnasten
Es sind also eher Schlingerbewegungen, die die Entwicklung unserer Sicht auf Nacktheit über die Jahrhunderte kennzeichnen. Bei den Alten Griechen war es völlig normal, nackt zu sein. Junge Männer trieben im ‘Gymnasion’ nackt Sport und auch bei den Olympischen Spielen erschienen viele Sportler nackt. Auf diese Weise konnten sie den Zuschauern und den Göttern zeigen, wie athletisch und stark ihre Körper waren.
Unter dem Einfluss des Christentums entstand dann ein Tabu rund um das Nacktsein, was der Sündenfall von Adam und Eva am besten symbolisiert. Diese beiden ersten Menschen lebten völlig nackt im Paradies. Nachdem sie aber von der Verbotenen Frucht gegessen hatten, schämten sie sich ihrer Nacktheit und bedeckten sich mit Feigenblättern.
Trotzdem waren nackte Körper im Alltag gewöhnlicher Menschen des Mittelalters nichts Anstoßweckendes. Viele Menschen schwammen und schliefen nackt, berichtet der Kunsthistoriker Jan de Jong. Und etwas Nacktheit hier und da, war kein Grund, um gleich zusammenzuzucken. Die Kirche pflegte zwar strenge Regeln rund um Sex aufzustellen, trotzdem zirkulierten jede Menge unanständige Schriften, unzüchtige Lieder und nicht jugendfreie Theaterstücke in der Gesellschaft.
Freigeistige Moral
Auf das Mittelalter folgte die Renaissance, was ein Comeback für das männliche Nacktsein in der Kunst bedeutete. Bildhauer und Maler besannen sich wieder auf die alten Griechen und Römer, was zu viel nackten Pimmeln und Brüsten führte. Allerdings war es zugleich die Zeit der Reformation und der gegensteuernden Kirchenväter, die den Sexskandalen in der Kirche den Garaus machen wollten. Eine Welle der Sittlichkeit überspülte die Gesellschaft, was sich in den keuschen Blättern widerspiegelt, die die marmornen Geschlechtsteile der Standbilder verzieren.
Im 17. Jahrhundert verflüchtigte sich der Nebel der Keuschheit wieder etwas. Vor allem in den Niederlanden herrschte eine recht freigeistige sexuelle Moral. Die Niederländer küssten sich in der Öffentlichkeit, praktizierten einen recht ungezügelten Sprachgebrauch und überraschten Ausländer mit ihrer Offenheit. Eine sehr typische Erscheinung hierbei war das sogenannte ‘Kweesten’, wobei unverheiratete junge Erwachsene um die 20 einander küssen und betasten durften. Sobald es beschlossene Sache war, dass sie heiraten würden, durften sie auch das Bett teilen. Außerdem erschienen ‘Vrijers-Bücher’, in denen die Kunst der Verführung und unterschiedliche Sexstellungen erklärt wurden.
Werden wir prüde? – Viktorianische Tischbeine
Im 19. Jahrhunderte feierte jedoch die Keuschheit wieder ihre Rückkehr. Die viktorianische Zeit brach an, in der der Konservatismus und strenge Anstandsregeln ihren Höhepunkt erlebten. Frauen mussten keusch und fromm sein, darum wussten sie nur wenig über Sex, Schwangerschaft oder Geburten. Für Männer galt eine andere Moral. Solange es nicht an die Öffentlichkeit gelangte, durften sie Bordelle aufsuchen und sich allerlei sexuellen Exzessen hingeben.
Ansonsten waren alle Formen von Sexualität und Erotik im öffentlichen Leben untersagt. Sogar Tischbeine wurden mit Tischdecken verhüllt, weil sie sonst zu sehr an Frauenbeine erinnern konnten. Schlimmer noch: Das Wort ‘Bein’ schien bereits anstößig zu sein, wodurch das Wort ‘Gliedmaßen’ gebräuchlich wurde. Und in der Kunst durften nur noch mythologische Wesen nackt abgebildet werden.
Nach Ansicht des Historikers Peter Gay ging es zu jener Zeit jedoch nicht ganz so prüde und steif zu, wie man vielleicht denken könnte. Auch in der viktorianischen Gesellschaft wimmelte es von Bordellen, Pornografie und außerehelichen Beziehungen, nur wurde eben alles unter einer Decke der Keuschheit versteckt. Das galt vor allem für die Frauen, betont auch Anais Van Ertvelde. Die viktorianischen Frauen sollten ein ‘zärtliches, häusliches und mütterliches Wesen’ sein, das nur Sex hatte, um ihrem Mann zu gefallen. Für ihre eigene Sexualität war kein Raum. Weibliche Lust? So etwas gab es nicht, denn das war schließlich unanständig.
Nackt bei Woodstock
Im 20. Jahrhundert wird die sexuelle Moral allmählich lockerer, mit einem kleinen Rückfall in den spießigen 50er Jahren. In den 60ern geht es dann richtig los. Der Einfluss der kirchlichen Sittenwächter nimmt ab, die zweite feministische Welle türmt sich auf und die sexuelle Revolution überspült das Land. Auch hierzulande werden die Röcke kürzer. In den Niederlanden zeigt sich Phil Bloom als erste Frau splitternackt im Fernsehen; ein Auftritt, der zu politischen Diskussionen führt und für weltweites Aufsehen sorgt.
In den darauffolgenden Jahren festigen die Niederlande ihr Image als freizügiges Land, denn es folgen noch viele Fernsehprogramme über Nacktheit und Sexualität. Menschen fahren in den FFK-Urlaub und an den Stränden liegen überall Frauen oben ohne, und niemand wundert sich darüber. Bilder nackter Hippies gehen um die Welt und selbst auf politischen Werbeplakaten sind nackte Personen abgebildet.
Durch den Einfluss der Blumenkinder wird Nacktheit zu etwas ganz Normalem. Nackt zu sein steht für Unschuld, reine Natur und Freiheit. Menschen tanzen nackt bei Woodstock, haben offene Beziehungen und experimentieren mit Sex und unterschiedlichen Partnern. Der nackte Körper ist nicht etwas, für das man sich schämen müsste, sondern etwas, das man feiern sollte.
Prüde gegenüber Pornofikation
In den letzten Jahren sind wie wieder etwas prüder geworden. Auch irgendwie logisch, in einer Gesellschaft, in der ‘einfach nackt’ nicht mehr so normal ist. Keine Frauen mehr oben ohne am Strand und auch öffentliches Stillen oder nackt in der Sauna wird immer ungebräuchlicher. Die Tage, an denen man nur noch mit Badekleidung in die Sauna darf, nehmen zu.
Die Jugend hat ebenfalls erst später Sex. Bei ihr wächst die Überzeugung, dass Sex exklusiv in eine Beziehung gehört, weshalb nicht mehr so schnell mit unterschiedlichen Partnern experimentiert wird. Sich auf der Straße küssen, vor allem, wenn es sich um homosexuelle Paare handelt, finden immer mehr Menschen anstößig und überflüssig. ‘Alles muss wieder hinter verschlossen Türen stattfinden’, sagt Linda Duits in dem bereits genannten online Magazin-Artikel. Sie fragt sich zudem, ob die Sexuelle Revolution tatsächlich eine Revolution war oder vielleicht doch nur eine der vielen Schlingerbewegungen, die es schon immer in der Gesellschaft gegeben hat.
Gespitzte Lippen
Gleichzeitig kommt es zu einem explosivem Anstieg sexueller und nackter Szenen in Filmen und Serien, argumentiert Inger Leemans im gleichen Artikel. Wir werden mit ‘pornografischer Nacktheit’ regelrecht überschüttet, mit Bildern von durchgestylten, sogenannt perfekten Körpern in sexuell aufgeladenen Haltungen. Wenn Kinder ‘Doktor’ spielen, ertönen alle Alarmglocken, andererseits finden wir es scheinbar völlig normal, wenn schon junge Kinder mit gespitzten Lippen Hunderte suggestive Selfies auf Instagram oder TikTok platzieren.
Zum Glück gibt es aber zu jeder Bewegung auch eine Gegenbewegung. Man schaue sich nur einmal eine Serie wie ‘Sex Education’ an, die einem neue Hoffnung gibt, denn sie zeigt Sex und nackte Körper auf ganz normale und selbstverständliche Weise. Eine Serie, mit der Jugendliche und auch Erwachsene lernen können, dass eben alles normal ist, egal, was für einen Körper man hat oder welche sexuelle Orientierung.
#FreeTheNipple
Zu diesem Trend passt auch die Befreiung der weiblichen Brustwarze in den Social Media. Unter dem Hashtag #FreeTheNipple berufen sich weibliche Berühmtheiten auf ihr Recht, nackte Brüste in den Social Media zu normalisieren. Sie demaskieren die Doppelmoral, mit der männliche Brustwarzen gezeigt werden dürfen weibliche aber einfach entfernt werden, weil sie anstößig und sexuell wären. Und ja, selbst dann, wenn an dem betreffenden Nippel gerade ein Baby saugt.
Tja, wir leben in paradoxen Zeiten. Auf der einen Seite wachsende Verklemmtheit aber gleichzeitig eine Welle der Pornofikation. Da kann man nur hoffen, dass es wieder zu einer Normalisierung der Nacktheit kommt und der Unterschiedlichkeit des menschlichen Körpers – sonst könnten wir eines Tages auf die Idee kommen, dass all die photoshop-modellierten Körper in den Social Media tatsächlich real und die Norm wären.
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