Kolumne: intim sein

Sie war schon seit Jahren nicht mehr dazu in der Lage, mit ihr intim zu sein. Ihr viel es schwer, ihre wahren Gedanken mit ihrer Freundin zu teilen und sie wirklich ehrlich zu berühren. Sie berührte sie nur noch, weil sie sich dazu verpflichtet fühlte und nicht, weil sie es wirklich wollte und fühlte. Das Ganze viel ihr unheimlich schwer und verursachte bei ihr Schuldgefühle. Sie fühlte sich schuldig, dass sie sich nicht mehr nach Intimität mit ihrer Freundin sehnte, sondern nach Intimität mit jemand anderem; nicht einmal mit einer speziellen Person, sie sehnte sich gleich nach mehreren anderen Personen. In den letzten Jahren war sie mehreren Menschen begegnet, bei denen sie dieses Verlangen empfunden hatte. Sie wollte mit ihnen tanzen, sprechen, lachen und Sex mit ihnen haben. Sie sehnte sich nach Intimität, aber eben nicht mit ihrer Freundin.

Sie vermisste die gemeinsame Intimität: den ehrlichen gegenseitigen Kontakt. Das Teilen eines Moments, bei dem es nur um sie beide ging. Und trotzdem konnte sie dies nicht mehr aufbringen.

In den vergangenen zwei Jahren hatte sie ständig nach den Gründen hierfür gesucht, denn ihre Freundin war so gut zu ihr, so lieb und ehrlich. Und sie liebte sich doch auch, sehr sogar, aber genau das war auch der Grund dafür, warum es ihr so schwer viel, die Ursache für ihr Unvermögen zu finden.

Es bracht ihr das Herz zu sehen, welches Leid sie ihrer Freundin zufügte, denn es bereitete auch ihr Kummer. Jeden Tag wieder aufs Neue. Jeden Tag grübelte sie stundenlang über die Ursachen nach, und wenn sie darüber sprachen, kam sie doch immer wieder zum gleichen Schluss: Sie wusste, dass sie ihre Freundin liebte. Sie wusste, dass es ihnen zusammen gut ging. Und sie wusste, dass sie gemeinsam eine gute Zukunft haben würden, zumindest rationell gesehen.

Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie eine Fähigkeit aktivieren musste, in der sie nicht besonders gut war: sie musste anfangen zu fühlen. Denn Liebe besitzt keine Logik. Wenn man sich in der luxuriösen Position befindet, sich einen Partner aussuchen zu können, folgt man dabei meistens seinen Gefühlen und nicht rationellen Aspekten. Als sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass sie schon seit Jahren nicht mehr echte Liebe für ihre Freundin fühlte, vielleicht hatte sie dies sogar noch niemals gefühlt. Dass sie vor neun Jahren eine Beziehung eingegangen war, war ein logischer Schritt gewesen. Sie hatte es aber nicht getan, weil sie sich in ihre Freundin wirklich verliebt hatte. Ihre Freundin hatte sich aber tatsächlich in sie verliebt und war dies auch nach wie vor. Ihr wurde nun jedoch bewusst, dass sie selbst eher aus rationellen Gründen gehandelt hatte.

Um mit jemandem wirklich intim sein zu können, muss man es wirklich fühlen: Ehrlichkeit, Aufmerksamkeit und Liebe. Wenn man nur weiß, dass man gut zusammenpasst, ohne es auch wirklich zu fühlen, wird das Ganze um einiges schwieriger.