Sexuelle Aufklärung und Popkultur: eine Goldene Kombination!
Filme, Fernsehserien, Musikvideos, Videogames, Werbung und Poster: Überall ist Sex. Gleichzeitig umgibt aber ein Tabu das ganze Thema, wodurch die sexuelle Aufklärung an Schulen noch immer aus den 50er Jahren zu stammen scheint. Was können wir aber von der Popkultur über Blumen und Bienen lernen?
Wie sieht es mit der sexuellen Aufklärung aus?
Nun ja, nicht so toll. Wenn man der Jugend Glauben schenkt, ist das, was an Schulen zur sexuellen Aufklärung stattfindet, immer noch beschämend rückständig. Unter dem Hashtag #kutvoorlichting (zu Deutsch: Scheißaufklärung) wollten zwei niederländische Untersuchungsprogramme und ein Radiosender die sexuelle Aufklärung verbessern und attraktiver gestalten. Darum befragten sie 2000 Jugendliche, welche Noten sie dem Sexualunterricht in ihrer Schule geben würden. Das Ergebnis war im Durchschnitt eine schwache Note 3.
Die Klitoris gibt es nicht
Die Schulen hatten sich vor allem schlechte Noten für ihre beschränkten Auffassungen der Sexualität eingehandelt. Während des Unterrichts ging es nach Aussage der Jugendlichen in erster Linie um Geschlechtskrankheiten, Verhütungsmittel, schwanger werden und Sex zwischen Männern und Frauen. Das Thema Spaß am Sex wurde ängstlich vermieden. Und auch die gleichgeschlechtliche Liebe wurde nicht thematisiert, genauso wenig wie Masturbation. Dies gibt es anscheinend nicht in der Welt der Schulen.
Auch die Klitoris ist offenbar eine Fabel. Bildmaterial zeigt den Penis in seiner ganzen Pracht, von der Vulva wurden aber nur die Eierstöcke gezeigt. Es gab sogar Lehrer, die den weiblichen Orgasmus als irrelevant bezeichneten, weil er nichts mit der Fortpflanzung zu tun hätte. Die Untersuchung schlug große Wellen, mit Erfolg. Denn seit zwei Monaten sind jetzt die Biologiebücher der niederländischen Schulen angepasst und wird auch die Klitoris ausführlich behandelt.
Sexuelle Zurückhaltung stimulieren
Das niederländische Beispiel ist kein Einzelfall. Auch eine amerikanische Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass die Hälfte der Jugendlichen ihrer sexuellen Aufklärung ein dickes Ungenügend als Note geben. Das ist natürlich besorgniserregend angesichts der Tatsache, dass bereits die Hälfte der Schüler in der Mittelstufe schon Sex haben. Die Dokumentation Let’s talk about sex kam zu dem Ergebnis, dass täglich etwa 10.000 Jugendliche eine Geschlechtskrankheit bekommen, 2400 Mädchen schwanger werden und sich 55 Jugendliche mit HIV anstecken – wie gesagt täglich!
Gleichzeitig wird die sexuelle Aufklärung in den USA jeden Tag noch schlechter. In nur 24 Bundesstaaten ist die sexuelle Aufklärung Pflicht und nur die Hälfte aller High Schools hält sich an das Programm, das das CDC (Staatliches Zentrum für Gesundheitskontrolle und Prävention) empfiehlt. Schlimmer noch: In einigen Staaten propagieren konservative Schulen sexuelle Zurückhaltung, um auf diese Weise das Risiko zu vermindern.
Sicherer Sex geht also bereits einen Schritt zu weit. Scheinbar muss man als Jugendlicher seine Jungfräulichkeit behalten, sonst ist man selbst schuld und muss man die Konsequenzen tragen.
Popkultur als Quelle sexueller Aufklärung
Viele Jugendliche suchen sich deshalb ihre Informationen an anderer Stelle wie z.B. der Popkultur. Das machen sie übrigens schon seit vielen Jahren. In den 80er Jahren entdeckten Mädchen, wie gefährlich unsicherer Sex sein konnte, als Penny in Dirty Dancing von irgendeinem ‘Metzger’ eine illegale Abtreibung durchführen ließ. Ein Jahrzehnt später lernten wir mit Hilfe von Samantha Jones in Sex and the City ganz schamlosen Sex zu genießen. Heute findet man bei den Streaminganbietern und im Internet überall jede Menge Sex, mit Sex Education als schillerndem Höhepunkt.
Die sexuelle Darstellung in dieser Serie bringt es auf den Punkt. Bevor wir aber so weit waren, mussten wir uns erst durch ganze Jahrzehnte voll Klischee-Rollen, frauenfeindliches und heteronormatives Elend kämpfen, das die stereotypen Figuren schamlos am Leben erhielt.
Denn wer gibt bei jedem Horrorfilm immer als erstes den Löffel ab? Natürlich die Schlampe. Und wer ist immer the last man standing? Die unschuldige Jungfrau.
Hartnäckige sexuelle Mythen
Das ist natürlich ziemlich schade und daneben. Denn wenn man ehrlich ist, könnte gerade Hollywood eine fantastische Quelle für sexuelle Aufklärung sein. Stattdessen erhält es aber nur althergebrachte sexuelle Mythen krampfhaft am Leben. Kondome werden niemals gezeigt, das jungfräuliche Mädchen ist immer ein Schmuckstück und das erste Mal Sex ist immer befriedigend, in einem Bett voller Rosenblätter.
Natürlich verfolgen Liebesszenen nicht das Ziel aufzuklären, sondern sollen unterhaltsam sein. Das ist ja auch gut so, aber nicht, wenn dadurch ganze Generationen falsche Dinge über Sex lernen. Hier folgen die hartnäckigsten Hirngespinste, die uns die Film- und Fernsehindustrie in den letzten Jahrzehnten vorgesetzt hat:
- Vorspiel ist überflüssig: Man sieht zwei sich küssende Teenager, auf einmal sind sie nackt und schon geht es los mit dem Sex. Für die meisten Menschen ist aber das Vorspiel ein sehr wichtiger Teil des Sex. Ganz besonders für Mädchen und Frauen, die etwas mehr benötigen, um ihren Körper auf die Penetration vorzubereiten. Wir können nicht einfach mit den Fingern schnippen et voilà: Unsere Vagina ist feucht. Trotzdem wird uns genau das immer wieder in Filmen und Serien vorgegaukelt. Denn die Schauspielerinnen stöhnen immer voller Leidenschaft, anstelle vor Schmerz zu wimmern, wenn ein Penis aus dem Nichts in ihre Vagina eindringt. Merkwürdig? Eigentlich schon, oder nicht?
- Frauen kommen unheimlich schnell zum Orgasmus: Für die Frauen auf der Leinwand scheint der Pimmel die Pforte zum herrlichen Orgasmus zu sein. Man sieht sie nur 20 Sekunden lang hecheln, während der Typ auf ihr liegt und sich verausgabt und schon kommt sie zum perfekten Höhepunkt. Und natürlich auch noch synchron mit dem Partner. Solche Verzerrungen der Realität lassen Jungen denken, ein Mädchen würde schon fast zum Orgasmus kommen, wenn sie ihren Pimmel nur zu Gesicht bekommt. Und obwohl die Mädchen natürlich die Wahrheit kennen, zweifeln sehr viele trotzdem an ihren sexuellen Fähigkeiten, wenn sie bei der Penetration nicht sofort zum Orgasmus kommen. Die Wahrheit ist allerdings ernüchternd. Nur 20 Prozent aller Frauen kommt durch vaginale Penetration zum Orgasmus, denn der wahre Schlüssel zum weiblichen Orgasmus ist und bleibt die Klitoris. Und wie viele Filme rücken diese Körperstelle ins Scheinwerferlicht?
- Männern Vergnügen zu bereiten ist das Ziel: Ok, es gibt natürlich auch Serien und Filme, in denen frauenfreundlicher Oralsex gezeigt wird. Und es gibt Filme und Serien, in denen die typischen Machomänner, die sich solchen Praktiken verweigern, lächerlich gemacht werden. Man denke nur an die herrliche Szene in The Sopranos, in der der Maffiaboss Tony einen halbherzigen Versuch startet und ihn seine Frau Carmela spottend fragt, ob schon wieder ein Jahr vorbei sei. Oralsex ist in Mainstream-Produktionen aber meistens nicht der Normalfall. Ein Blowjob ist jedoch etwas, was weibliche Rollen schon beherrschen sollten. Auf diese Weise wecken viele Produktion unbewusst den Eindruck, dass das Vergnügen des Mannes das ultimative Ziel von Sex wäre.
- Sex findet zwischen Männern und Frauen statt: Mit Abstand die meisten Sexszenen auf der Leinwand finden zwischen Männern und Frauen statt. Und obwohl die Wiedergabe von Sex in den letzten Jahren schon um einiges inklusiver geworden ist, ändert dies nichts an der Tatsache, dass der meiste Sex im Fernsehen zwischen cis-Männern und cis-Frauen stattfindet. Newsflash: Sex ist nicht nur weißen Heteromenschen vorbehalten, sondern ist für alle da. Egal, welcher Rasse, Geschlecht oder sexueller Orientierung man angehört. Zum Glück findet aber auch eine Veränderung statt. Serien wie Girls und Orange is the New Black verdeutlichen, dass man nicht unbedingt einen Penis braucht, um einen wilden Höhe erleben zu können. Und auch die homosexuelle Sexszene in Years and Years verschob eine Grenze. In dieser Serie ging es endlich einmal nicht um irgendwelche hysterischen Auslassungen, sondern um zwei ganz normale Männer in einer normalen Beziehung, die ganz normal miteinander handfesten Anal-Sex hatten. Dabei wurde nichts problematisiert und niemand bekam AIDS.
- Sex ist immer smooth: Auf der Leinwand werden uns nie unangenehme Momente gezeigt. Sex ist immer leidenschaftlich und makellos. Wir sehen Close-ups von schwitzenden, perfekten Körpern und rosa Zungen, die verführerisch über rote Lippen gleiten. Realistisch? Nicht wirklich. Sex im echten Leben ist viel öfter chaotisch, ganz besonders, wenn man es zum ersten Mal macht. Die Haare verwandeln sich in ein Chaos, man fällt aus dem Bett, lässt aus Versehen einen fahren, die Dellen in den Oberschenkeln sind on full display und auch dein Gesicht sieht beim Orgasmus nicht gerade wie ein Victoria’s Secret Angel nach dem Photoshop aus. Das bedeutet aber nicht, dass dieser Messy Sex weniger sexy wäre. Er ist sogar gerade angenehmer, intimer und Tausende Male besser als Sex, der versucht, dem aufgepumpten Idealbild von der Leinwand nachzueifern.
Tipp: Sieh dir auch unseren Artikel über Sexszenen in Bingewatch-Serien!
Jungfräulichkeit als Preis
Eines der größten Themen in Jugendfilmen ist das Verlieren seiner Jungfräulichkeit. In solchen Filmen versuchen die Mädchen verzweifelt ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, während die Jungen alles geben, um die betreffende Jungfrau in ihre Höhle zu schleppen. Die Wiedergabe dieser jungfräulichen Mädchen ist meistens auch haarsträubend peinlich. Sie gibt verlegen zu, dass sie ‘das noch nie zuvor gemacht hat’, woraufhin ihr Eroberer ganz beruhigend sagt, dass sie es ‘ganz langsam angehen werden’. Schließlich soll das Erste Mal etwas ‘ganz Besonderes’ sein.
Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen solchen Szenen und der Vorstellung, dass eine Frau unschuldig und rein bleiben sollte, bis ihr der Wahre über den Weg läuft. Ihre Jungfräulichkeit ist ein großes Geschenk für ihren Partner, als wäre sie nichts anderes als eine Kirsche, die gepflückt wird. Eine Kirsche die saftiger und leckerer ist, weil sie noch nie gepflückt wurde. Der Wert eines Mädchens wird also auf das Maß reduziert, wie gut sie sich selbst für den einen Lucky Bastard bewahrt hat.
Sex Education: die bessere sexuelle Aufklärung!
Da ist die Netflix-Serie Sex Education anders. In der Serie erleben wir Otis, der mit seiner Mutter in einem Haus voller Gemälde von Vulvas wohnt. Letzteres ist auch kein Wunder, denn Otis’ Mutter ist eine Sextherapeutin. Als eine seiner Klassenkameradinnen realisiert, dass Otis sehr viel über Sex weiß, ermutigt sie ihn, anderen Schülern sexuelle Aufklärung gegen Bezahlung zu vermitteln.
Sexuelle Probleme
Ab dem Moment zieht ein anhaltender Strom an sexuellen Problemen am Zuschauer vorbei. Die Serie befasst sich nicht nur eingehend mit den Unsicherheiten rund ums Thema Sex, sondern behandelt auch andere Fragen wie z.B. Abtreibung, Masturbation, den weiblichen Orgasmus, Sexismus, Skandale mit Sexting und Vorurteile über die LHBTIQ+-Gemeinschaft.
Sie entlarvt gnadenlos Märchen über Geschlechtskrankheiten und erklärt ganz nebenbei noch, welche Gleitmittel man am besten wann benutzen sollte. Asexualität, Bisexualität, Pansexualität: wirklich jede sexuelle Vorliebe kommt hier zu ihrem Recht.
Keine Vorurteile
Und das schafft die Serie ohne Vorurteile. In der ersten Folge sieht man z.B. eine realistische Szene über Abtreibung. Nirgends wird mit erhobenem Finger gewarnt, man lebt aber voll und ganz mit den betroffenen Protagonisten mit; vom Wartezimmer bis zum Aufwachzimmer. Melodramatische Musik bleibt außen vor, stattdessen wird uns eine Abtreibung so gezeigt, wie sie tatsächlich ist. Ja, sie ist emotional sehr schwer. Das bedeutet aber nicht, dass man automatisch mit Gefühlen wie Schuld oder Selbsthass kämpfen müsste.
Oder wie wäre es mit Masturbation. Ein lächerliches Phänomen bei den meisten Produktionen, mit einem vollgespritzten Apfelkuchen als absolutem Tiefpunkt. Bei Sex Education wird dagegen ganz fröhlich gesagt, dass es sich dabei um ein vollkommen normales und gesundes menschliches Bedürfnis handelt.
Nicht eindimensional
Das Schöne an Sex Education ist, dass sich die Themen niemals peinlich anfühlen. Die Geschichten werden sehr empathisch erzählt und nirgends kommt es zu einer verurteilenden Wendung im Plot. Es handelt sich um eine ehrliche Entdeckungsreise durch die Welt der Sexualität mit echten, glaubwürdigen Protagonisten.
Die Macher der Serie verkneifen sich darum auch unrealistische Idealbilder oder Stereotypen. In traditionellen Teenager-Serien sind die Charaktere oft sehr eindimensional: schön, perfekt und populär, sonst hat man wohl keinen Sex verdient. Die Jugendlichen in Sex Education sind dagegen divers, sowohl in puncto Rasse und Körpertyp als auch was ihre sexuellen Neigungen angeht. Ihre Geschichten werden nuanciert und gefühlvoll erzählt, wobei Sex etwas völlig Normales und Erkennbares ist. Etwas, mit dem wir alle lernen müssen umzugehen.
Sexuelle Aufklärung 2.0
Die Botschaft kommt offensichtlich bei sehr vielen Jugendlichen an. Die Serie war uns ist ungeheuer populär und war der Startpunkt weiterer Serien, in denen Sex viel mehr als natürlicher Teil der menschlichen Erfahrung wiedergegeben wird. Sie war auch ein Stilbruch gegenüber anderen Serien, in denen Sex problematisiert oder ins Lächerliche gezogen wurde.
In gewisser Hinsicht sind Serien wie Sex Education auch eine Abrechnung. Eine Abrechnung mit der Art und Weise, wie sexuelle Aufklärung schon seit Menschengedenken Jugendlichen eingetrichtert wird. Nicht, dass sich in all den Jahren nichts verändert hätte, aber Spaß am Sex ist noch immer ein Fremdwort bei sexuellen Aufklärungsstandards. Genau wie die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten, auf die man Sex erleben kann.
Popkultur umarmen
Vielleicht ist es an der Zeit, dass Lehrer und die Entwickler von Unterrichtsmaterial sich etwas in die Popkultur vertiefen. Dass sie sich aktueller Trends bewusster werden, wenn sie sexuelle Aufklärung lehren. Die Popkultur ist dein Freund, sagt auch Susan Bankowski von Campaign for Our Children. Diese Generation wird man nicht mit altmodischen Warnungen und verstaubten Abbildungen von Eierstöcken erreichen. Jugendliche beziehen ihre sexuellen Kenntnisse aus Serien, Filmen, von Pop-Ikonen und aus den Social Media.
Wird es darum nicht langsam Zeit, dass sexuelle Aufklärung genau diese Popkultur umarmt, um die Jugend zu erreichen?
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