Genderneutraler Sprachgebrauch: übertrieben oder eine gute Sache?
Seitdem das genderneutrale Wort ‘xier’ oder ‘sier’ als Pronomen auftauchte, ist der Siegeszug des genderneutralen Sprachgebrauchs nicht mehr aufzuhalten. ‘Höchste Zeit’, wie die einen meinen, ‘Genderwahnsinn’, sagen die anderen. Wie sehen die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet aus? Ist genderneutraler Sprachgebrauch tatsächlich ‘vollkommen übertrieben’ wie seine Gegner behaupten oder bringt er uns nur ein Stück näher an die längst überfällige Emanzipation in Sachen Sprache heran?
Sexistische Funktionsumschreibungen
In vielen westlichen Ländern ist genderneutraler Sprachgebrauch ein großes Thema. Offizielle Stellen tun ihr Bestes, um ihren Sprachgebrauch so inklusiv und neutral wie möglich zu gestalten; also ohne Andeutung männlicher oder weiblicher Identitäten. Und auch ohne Funktionsumschreibungen, die – auch etwas sexistisch – immer eine männliche Form besitzen.
Ein Beispiel hierfür ist Amerika, wo das Abgeordnetenhaus das Wörterbuch intensiv durchforstet hat. Als Parlamentsmitglied darf man Bezeichnungen wie ‘Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester, Neffe, Nichte, Ehemann oder Ehefrau’ zwar noch mündlich benutzen aber nicht mehr bei schriftlicher Kommunikation anwenden. Stattdessen müssen Bezeichnungen wie ‘Elternteil, Kind, Verwandtschaft, Kind der Familie und Ehepartner’ benutzt werden. Funktionsbezeichnungen wie ‘Chairman’, die auch von Frauen besetzt werden können, wurden in ‘Chairperson’ abgeändert.
Das verläuft natürlich alles andere als reibungslos. Die Diskussionen um dieses Thema flammen immer wieder auf, wobei Gegner wie z.B. der extrem Evangelikale Franklin Graham sich – wie man sich leicht vorstellen kann – erheblich über den ‘Faustschlag ins Angesicht Gottes’ echauffieren.
Genderneutrale Geburt
Inzwischen schreitet die Entwicklung in hohem Tempo voran; sogar bis in den Kreißsaal. Bezeichnungen wie Mutter und Muttermilch sind so selbstverständlich, dass man kaum darüber nachdenkt. In einem britischen Krankenhaus ist man jedoch der Meinung, dass diese Selbstverständlichkeit ziemlich überholt ist. Darum hat das Krankenhaus genderneutralen Sprachgebrauch auf der Geburtenabteilung eingeführt. Die Hebammen können dort Bezeichnungen wie ‘Menschenmilch’ oder ‘Gebärender Elternteil’ verwenden. Väter können als (Co)Elternteil angesprochen werden.
Man beachte aber das Wörtchen ‘können’. Keine Hebamme wird dazu gezwungen, Wörter wie ‘Mutter’, ‘Vater’, ‘Muttermilch’ oder ähnliches aus ihrem Vokabular zu streichen. Die genderneutrale Sprache wird nur bei Menschen verwendet, die dies auch wünschen.; quasi als Teil ihres Geburtsplans. Auf diese Weise möchte das Krankenhaus dafür sorgen, dass auch Trans- und non-binäre Menschen sich im Krankenhaus wohl und beachtet fühlen; und dass sie eine positivere Geburtserfahrung erleben können.
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Gegenwind
Obwohl dies an sich sehr noble und inklusive Bestrebungen sind, stemmen sich auch viele Menschen dagegen. Von einem genervten Seufzen bis hinzu unverhohlener Aggression: Ihre Abscheu gegen entsprechende Bemühungen ist groß und damit halten sie auch nicht hinterm Berg. Sie haben das Gefühl, als müssten sie auf Eiern laufen, dass sie permanent auf der Hut sein müssten, um niemanden zu verletzen und dass ihnen die Welt, wie sie ihnen geläufig ist, Stück für Stück genommen wird. Dass jetzt sogar ein unschuldiges und liebevolles Wort wie ‘Muttermilch’ als verletzend erfahren wird, bringt für diese Leute das Fass zum Überlaufen. Das Ganze geht ihnen einfach zu weit.
Irgendwie auch logisch, vor allem, wenn man bedenkt, wie sensationslüsternd und provokativ viele Medien die Nachricht präsentierten. Der aufhetzende Charakter der Social Media verursacht bei solchen Themen mehr Schlechtes als Gutes. Und es scheint auch etwas übertrieben, ein ganz neues Sprachkonzept auf die Beine zu stellen, nur für den einen äußerst seltenen Fall, dass eine non-binäre Person ein Baby bekommt. Warum sollte die betreffende Person dann nicht einfach angeben können, dass sie das Wort ‘Menschenmilch’ bevorzugt? Muss hierfür wirklich ein ganzes Konzept entwickelt werden? Nun, eigentlich… ja!
Warum Genderneutralität in der Sprache?
Das Genderspektrum umfasst mehr als nur Mann und Frau. Das wissen wir natürlich, dennoch scheint das Verständnis hierfür nur sehr langsam zur Gesellschaft durchzudringen. Beispiele, Fernsehshows und andere Plattformen gibt es genügend, bevor aber neue Worte und Anredeformen zum Gemeingut werden, wird es noch eine ganze Weile dauern.
Fragestellungen wie die beschriebene auf der Geburtsabteilung betreffen die Genderidentität; Menschen, die mit einem Körper geboren wurden, der nicht typisch Mann oder Frau ist. Sie betreffen Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, mit dem sie geboren wurden oder Menschen, die sich nicht deutlich als Mann oder Frau fühlen und sich als non-binär bezeichnen.
Traditionelle Gender-Ecke
Diesen Personen schlägt oft Unverständnis entgegen. Es gibt z.B. Transmänner, die einen Kinderwunsch haben und sich deshalb nicht in Transition begeben. Ihr Körper ist also noch weiblich, sie fühlen sich aber als Mann. Gerade für solche Personen kann es äußerst angenehm sein, so angesprochen zu werden, wie sie sich fühlen. Genau wie die Menschen, die durchaus in die traditionelle Gender-Ecke passen und diese Form der Ansprache ebenso genießen.
Eine geringfügige Anpassung im Sprachgebrauch kann für sie einen erheblichen Unterschied bedeuten. Es hilft also, wenn eine Hebamme weiß, wo und wann Sensibilität bei der Wortwahl gefragt ist und nicht überrascht, unwissend oder sogar kritisch reagiert, wenn jemand angibt, auf bestimmte Weise angesprochen werden zu wollen. Während einer Geburt hat man schließlich ganz anderes am Hals, als ständig erklären zu müssen, mit welchem Geschlecht man sich identifiziert.
Genderneutraler Sprachgebrauch emanzipiert
Abgesehen von unserem Beispiel mit der Geburt, gibt es natürlich auch zahllose weitere Situationen, bei denen die Menschen mit dem traditionellen Sprachgebrauch in Konflikt geraten. In den meisten westlichen Staaten gibt es deswegen bereits Vorschläge für ein drittes persönliches Pronomen. Im Englischen wird das ‘they’ bevorzugt und 2019 wurde es sogar prompt vom führenden Wörterbuch Merriam-Webster zum Wort des Jahres gewählt.
Auch in den Niederlanden gibt es Stimmen, die dafür plädieren, die traditionelle Pluralform ‘hen’ für Personen zu verwenden, die nicht in die binäre Ecke hineinpassen. Und obwohl einige Sprachwissenschaftler auf mögliche Verwirrungen hinweisen, sind die Betroffenen mit dieser Möglichkeit glücklich. Z.B. sagte Sky bei dem Fernsehsender BNNVara: ‘Hen bedeutet für mich einen Weg hin zu einer ehrlicheren und genderneutralen Welt. Hen führt dazu, dass ich keinen unterschwelligen Druck mehr fühle, einer der beiden Formen des binären Geschlechtermodells entsprechen zu müssen.’
Dass die Sprache einen positiven Einfluss auf die Emanzipation besitzt, zeigen die schwedischen Anstrengungen rund um den genderneutralen Sprachgebrauch. In Schweden wurde das inklusive Pronomen ‘hen’ – eine Mischung aus dem männlichen ‘han’ und dem weiblichen ‘hon’ – schon 2015 offiziell dem Wörterbuch hinzugefügt. Untersuchungen konnten zeigen, dass die Menschen seither positiver über sexuelle Minderheiten denken und weniger an traditionellen Geschlechterrollen festhalten.
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Die Welt besteht nicht nur aus Männlein und Weiblein
Das sind ermutigende Entwicklungen, die hoffentlich dazu führen, dass das Verständnis rund um Genderidentität wächst. Unsere Welt besteht eben nicht nur aus Männlein und Weiblein, und diese Diversität sollte sich auch in der Sprache niederschlagen.
Wenn du dich als Cisgender zurückgesetzt fühlst, weil ein Wort wie ‘sier’ existiert, zeigst du nur, dass du keine Ahnung hast, wie sehr die traditionelle binäre Unterscheidung viele andere Gruppen ausschließt. Es geht darum, dass wir uns alle in unserer Sprache erkennen können sollten. Damit sich jeder beachtet und gesehen fühlen kann.
Aufregung
Führt das dann nicht zu vielen Diskussionen und Unruhe? Zweifellos. Und nicht nur zwischen Cisgendern und non-binären oder Genderfluid-Personen. Auch innerhalb der LHBTIQ+-Gemeinschaft kommt es regelmäßig zu Aufregungen. Man denke nur an die Diskussionen, die durch die aus allen Fugen geratene Regenbogenflagge entstanden sind, auf der sich jede einzelne Untergruppe repräsentiert sehen will.
Wir leben nun einmal in einer Zeit, in der jedes Individuum immer stärker seine Stimme hören lässt.
Wir leben nun einmal in einer Zeit, in der jedes Individuum immer stärker seine Stimme hören lässt. Früher passten sich die Menschen ihrer Umgebung eher an, heute ist immer öfter das Gegenteil der Fall. Das führt dazu, dass die Gesellschaft immer stärker fragmentiert zu sein scheint, diese Fragmentierung gab es aber eigentlich schon immer. Sie wurde nur verschwiegen, versteckt hinter einem ordentlichen weißen, cisgender und heterosexuellen ‘Idealbild’.
In einer solchen Gesellschaft lebt es sich gut, wenn man zufällig diesem Idealbild entspricht. Für sehr viele andere Menschen war das Leben in einer solchen Umgebung jedoch weniger angenehm.
Sein zu dürfen, wie man ist
Einen so starken Fokus auf ein Individuum oder eine Untergruppe kann man vielleicht als übertriebenen, überkorrekten Wahnsinn bezeichnen. Er kann uns als Gesellschaft aber auch viel Gutes bescheren. Z.B. Menschen mit einem gesunden und positiven Selbstbild; die sich zu Hause fühlen und so sein dürfen, wie sie sind; ohne sich verstecken zu müssen oder vor Zurückweisung Angst zu haben.
Eigentlich ist es sehr einfach. Gibt es Menschen, die sich in einer Gesellschaft, die nur zwischen Mann und Frau unterscheidet, nicht beachtet fühlen? Dann sollte man das ändern und ihnen ebenfalls Raum geben. Damit auch sie sich in der Welt erkennen können, in der sie jeden Tag atmen, gehen, schlafen, arbeiten, lachen, heulen, streiten und Sex haben. Einfach leben. Wie jeder andere auch.
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