Wir haben Sex so furchtbar wichtig gemacht
Ich wusste schon mit 13 Jahren, was ich werden wollte: Sexologin. Damals war ich noch nicht sexuell aktiv aber meine endlose Neugier war bereits hellwach. Und so ist es bis heute geblieben. Denn es scheint ein Thema zu sein, das niemals stillsteht. Es ist fortwährend in Bewegung und entwickelt sich weiter. Es ist so groß und mächtig und gleichzeitig ein nur so kleiner Teil dessen, was eine Beziehung zwischen zwei Menschen ausmacht. Und das ist dann auch der Punkt, an dem es zur Verwirrung kommt, wo Erwartungshaltungen und Überzeugungen entstehen, wie Sex eigentlich auszusehen hat. Man sollte Sex nicht zu wichtig nehmen.
Etwa 15% einer Partnerbeziehung dreht sich um Sexualität. Nur 15%. Die übrigen 85% werden von Dingen wie Aufgabenverteilung im Haushalt, Kindern, Finanzen, sozialem Netzwerk, Aufbau der Zukunft, Intimität und dem Unternehmen toller Aktivitäten ausgefüllt. Nur 15% hat also etwas mit dem Teilen von Sexualität zu tun. Und doch ist Sex, oder dessen Abwesenheit, eine der Hauptursachen, aus der Beziehungen beendet werden.
Wir haben Sex so furchtbar wichtig gemacht. Viel zu wichtig, wenn du mich fragst. Ja klar, Sex kann herrlich sein; wunderbar verbindend und ein Höhepunkt der Intimität. Trotzdem ist Sex nur Sex. Ich höre Menschen immer wieder sagen, dass Sex der Unterschied zwischen einer Liebesbeziehung und reiner Freundschaft wäre. Diese Sichtweise teile ich jedoch nicht. Es ist die Intimität, die man mit seinem Liebsten teilt, die so verbindend ist. Diese Intimität kann sicherlich auch beim Sex gefunden werden, sie versteckt sich aber auch in so viel mehr Dingen und nicht nur im Sex. Man kann nicht mit jedem intim sein. Man möchte nicht mit jedem ein intimes Gespräch führen oder jedem seinen Kopf auf die Schulter legen. Sex kann man dagegen mit mehreren Menschen haben; zumindest können die meisten Menschen eher Sex mit mehreren Menschen haben als mit mehreren Menschen intim sein.
Wir haben den Sex aber zu solcher Wichtigkeit erhoben, dass er in der Beziehung eine zentrale Rolle eingenommen hat. Wenn man Sex auf angenehme Art genießt, wenn er für Verbindung und Genuss sorgt, dann ist das auch gut so. Was mich betrifft, darf sowieso jeder selbst entscheiden, wie er oder sie seine Beziehung gestalten möchte. Leider machen wir den Sex aber zu etwas viel zu Wichtigem, weil wir dabei ein bestimmtes Bild im Kopf haben; unsere Erwartungshaltung und die gesellschaftlichen Normen sind viel zu wichtig geworden. Es darf ruhig auch einmal Perioden geben, in denen Sex keine Priorität hat oder man eben nicht so sehr das Bedürfnis danach verspürt. Es lässt sich sowieso nicht vermeiden, dass du und dein Partner immer wieder unterschiedliche Bedürfnisse in Sachen Sex empfinden werden. Vielleicht wird man manchmal auch von anderen mehr erregt sein als vom eigenen Partner. Du darfst auch ruhig ein stärkeres Bedürfnis nach Sex mit dir selbst als mit dem Partner haben. All das ist erlaubt. Und wenn du dies empfindest, oder wenn es Dinge gibt, die du gerade nicht so empfindest, muss das überhaupt nichts über deine Beziehung aussagen. Denn deine Beziehung ist weitaus mehr als nur Sex. Und in manchen Fällen kann die Sexualität tatsächlich zum unüberwindbaren Problem werden, in allen anderen Fällen sollte wir aber den Sex nicht wichtiger machen, als er ist.
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