Mythen über sexuelle Gewalt: Warum sind sie so schädlich?

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Nur junge, gutaussehende Frauen erleben sexuelle Gewalt. Vergewaltiger sind unheimliche Männer, die aus dem Wald hervorspringen. Und wenn man während sexueller Gewalt zum Höhepunkt kommt, wird es einem wohl gefallen haben. Es gibt sehr viele Unwahrheiten rund um das Thema sexuelles grenzüberschreitendes Verhalten, die den Opfern einer entsprechenden Tat noch zusätzlichen Schmerz zufügen. Höchste Zeit also, diesen Unsinn gründlich zu beseitigen.

Was sind Vergewaltigungsmythen?

Der Begriff des Rape Myths wurde bereits 1980 von der Soziologin Martha R. Burt verwendet. Vergewaltigungsmythen sind ihrer Meinung nach falsche Überzeugungen rund ums Thema sexuelle Gewalt. Vorurteile und Stereotypen, mit denen die Schuld der sexuellen Gewalt vom Täter auf das Opfer verschoben werden soll.

Vielleicht hast du selbst schon einmal im Stillen so gedacht, nachdem du gehört hattest, dass ein Mädchen nach zu viel Wein mit ihrem Date aufs Zimmer ging und dort vergewaltigt wurde. Warum hat sie dann mit ihm so geflirtet? Warum ist sie mit ihm mitgegangen? Dann hast du es dir doch irgendwie selbst eingebrockt?

Wilder Höhlenmensch

Solche Mythen sind sehr schädlich, denn sie verschaffen dem Täter eine Entschuldigung. Zudem befördern sie das Opfer auf die Anklagebank. Sie entstammen hartnäckigen Stereotypen über die Rolle der Geschlechter und sind auf diese Weise sowohl für Frauen als auch Männer schädlich.

Denn wenn man als Frau einen kurzen Rock trägt und dies direkt als sexuelle Aufforderung interpretiert wird, was sagt dies über den betreffenden Mann aus? Was sagt es über seine Fähigkeit aus, sich selbst zu beherrschen und mehr zu sein, als nur ein wilder Höhlenmensch, der jeder Frau die Kleider vom Leib reißen will? Männer sind doch keine unterentwickelten Tiere, die sich nicht mehr beherrschen können, wenn sie ein nacktes Bein erblicken?

Überholte Vorstellungen

Rape Myths führen zudem dazu, dass überholte Vorstellungen zu sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft weiterhin die Runde machen; mit allen zugehörigen Folgen. Denn solange ein solcher Mythos immer wieder aufgewärmt wird, werden die Opfer es auch weiterhin schwer haben, Hilfe zu suchen oder Anzeige zu erstatten. Sie schweigen lieber, weil sie sich für das schämen und schuldig fühlen, was ihnen angetan wurde.

Obwohl die Schuld für sexuelles grenzüberschreitendes Verhalten niemals beim Opfer zu suchen ist; nur damit wir uns in diesem Punkt ganz sicher nicht missverstehen.

Tipp: Lies alles über den emotionalen Einfluss sexueller Gewalt in unserem Artikel über sexuelle Gewalt und Trauma.

Sieben Mythen rund um sexuelle Gewalt

Es sind so viele Rape Myths in Umlauf, dass sie häufig mit der Wahrheit verwechselt werden. Hier folgen die sieben widerspenstigsten Exemplare, die das Dreieck aus ‘Vergewaltigung – Täter – Opfer’ schon seit Menschengedenken verwässern.

1: Bei sexueller Gewalt geht es um Sex

Falsch! Sexuelle Gewalt hat so gut wie nie etwas mit Sex zu tun. Die Menschen denken oft, dass Vergewaltiger sexuell frustrierte Personen wären, die ihren Sextrieb nicht beherrschen können. Natürlich kann Sex ein Motiv sein, sexuelle Gewalt entspringt aber wesentlich öfter dem Wunsch nach Kontrolle und Macht. Sex stellt dann nur das Mittel dar, nicht aber das eigentliche Ziel.

2: Vergewaltiger sind unheimliche Gestalten, die aus dem Gebüsch hervorspringen

Ein Vergewaltiger muss kein undurchsichtiger Typ sein, der irgendwo im Schatten lauert. Und Frauen werden nicht nur nachts belästigt, wenn sie durch eine dunkle Straße laufen. Das ist sogar wesentlich seltener der Fall. Drei von vier Tätern, die sexuelle Gewalt begehen, sind Bekannte des Opfers. Die Täter sind meist ganz normale unauffällige Männer, die irgendwann zu sexueller Gewalt übergehen, um das Opfer zu erniedrigen. Doktoren, Lehrer, Polizisten oder der Nachbar, der seine Hände nicht bei sich halten kann, sie alle können zum Täter werden.

3: Sexuelle Gewalt lässt sich provozieren

Man wird nicht sexuell belästigt, weil man seinen gesunden Menschenverstand nicht benutzt hat. Oder weil man in einem kurzen Rock und mit tief ausgeschnittenem Top auf die Avancen irgendeines Verführers eingegangen ist. Man wird sexuell belästigt, weil man das Pech hatte, einem entsprechenden Täter begegnet zu sein. Der Grund und die Schuld für die sexuelle Gewalt liegt einzig und allein bei ihm, nicht bei dir. Simple as that.

4: Nur ein bestimmter Typ Frau wird zum Opfer

Wir erliegen gerne der falschen Vorstellung, dass nur junge, hübsche Mädchen vorsichtig sein müssten. In Wahrheit kann aber jede Frau zum Opfer sexueller Gewalt werden. Ein Täter achtet meistens nicht so sehr auf die äußere Erscheinung, die Kleidung oder das Alter, wenn er ein Opfer aussucht. Er sucht eher nach Verwundbarkeit. Ist das Opfer klein und leicht zu überwältigen? Ist sie allein, ist sie benebelt (z.B. durch Alkohol) oder vielleicht gutgläubiger als andere Frauen? Das sind die Dinge, auf die die Täter achten. Dazu muss man also keine wunderschöne, zwanzigjährige Studentin sein.

5: Wenn du dich nicht wehrst, wurdest du auch nicht vergewaltigt

Manche Opfer wehren sich während der Vergewaltigung. Sie schlagen, treten oder beißen ihren Angreifer in der Hoffnung, dass er dann von ihnen ablassen wird. Andere Opfer tun dies aber nicht. Nicht, weil sie die ihnen angetane Gewalt in Ordnung finden würden, sondern weil sie aus Angst oder durch den Schock erstarren. Sie fürchten sich so sehr, dass ihr Körper wie gelähmt ist und sie nicht einmal mehr ‘nein’ sagen können. Eine derartige scheinbare Unterwerfung bedeutet aber nicht, dass sie der Gewalt, die ihnen angetan wird, zustimmen würden. Es bedeutet lediglich, dass sie in dieser Situation das tun, was zum Überleben notwendig ist. Bei einer Vergewaltigung gibt es keine richtige oder falsche Reaktion. Leider sehen viele Frauen dies anders. Sie schämen sich, dass sie alles mit sich haben machen lassen. Und wenn dann der Täter und dessen Verteidigung dieses falsche Argument hervorbringen, um die sexuelle Gewalt abzuschwächen, ist das ebenfalls nicht gerade hilfreich.

6: Wenn du zum Höhepunkt kommst, wurdest du nicht vergewaltigt

Dein Körper reagiert auf viele unterschiedliche Reize. Auch dann, wenn diese Reize nicht erwünscht sind. Frauen können also auch bei sexueller Gewalt feucht werden und sogar den Höhepunkt erreichen. Das ist nichts Ungewöhnliches, sondern eine ganz simple natürliche Reaktion auf körperliche Stimulation. Natürlich wird ein entsprechender Orgasmus bei vielen Frauen zu Verwirrung führen, zu Scham und Schuldgefühlen. Denn wie konnten sie es nur ‘genießen’, vergewaltigt zu werden? War es dann überhaupt eine Vergewaltigung und war es eigentlich ganz angenehm? Genau diese Verwirrung wird von den Tätern sehr gerne missbraucht, um den Opfern das Schweigen aufzuerlegen.

7: Innerhalb einer Beziehung kann von sexueller Gewalt keine Rede sein

Wenn zwei Menschen bereits früher zusammen Sex hatten, bedeutet dies nicht, dass weiterer Sex ganz selbstverständlich wäre; auch nicht innerhalb einer Beziehung oder Ehe. ‘Nein’ ist und bleibt ‘Nein’, und wenn deine Absage nicht respektiert wird und dein Partner dich gegen deinen Willen penetriert, ist das sexuelle Gewalt. Selbst wenn du erst während des Sex zu dem Schluss gelangst, dass du nicht mehr weitermachen willst und dein Sexpartner dies nicht respektiert, handelt es sich auch dann um sexuelle Gewalt. Du darfst deine Meinung durchaus ändern, und dein Partner ist und sollte ganz klar im Stande sein, auch während des Sex noch zu stoppen. Wenn dich ein Mann vergewaltigt, wird er nicht von seiner Leidenschaft mitgerissen, die er nicht kontrollieren kann. Vergewaltigung ist und bleibt ein Gewaltverbrechen und so sollte sie auch gesehen werden.

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Vergewaltigungsmythen entkräften? Absolut!

Im Zuge von #MeToo tauchen immer mehr Geschichte auf und werden sexuelle Raubtiere identifiziert und an den Schandpfahl gestellt. Und obwohl das Thema also stark in den Vordergrund gerückt ist, wird trotzdem noch immer jede dritte Frau mit sexueller Gewalt konfrontiert. Und etwa ein Viertel aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren erlebt irgendwann in irgendeiner Form Gewalt durch ihren Partner.

Vergewaltigungsmythen helfen ganz bestimmt nicht dabei, diese Zahlen zurückgehen zu lassen. Je hartnäckiger diese Mythen sind, desto mehr stereotype Vorstellungen werden die Wahrheit rund um sexuelle Gewalt verzerren. Und was sind die Folgen? Sexuelle Gewalt wird schön geredet und bagatellisiert. Das Opfer wollte es ja nicht anders. Sie hat sich schließlich so aufreizend gekleidet und befand sich also ganz klar auf der Suche nach einem Abenteuer. War sie betrunken oder durch Drogen betäubt? Dann sollte sie sowieso nicht klagen, denn dann wird sie sicher regelmäßig mit Männern halb besinnungslos ins Bett gehen.

Freibrief für die Täter

Solche Mythen lassen die Opfer nicht nur mit der Vorstellung zurück, dass sie die sexuelle Gewalt sich selbst zu verdanken haben, sondern führen zudem dazu, dass Frauen, die nicht vergewaltigt wurden, ein völlig fehlgeleitetes Gefühl der Erhabenheit entwickeln, das darüber hinaus recht gefährlich sein kann. Sie kleiden und verhalten sich ganz ‘ordentlich’, denn dann kann ihnen ja nichts passieren. Dabei ist es inzwischen erwiesen, dass sexuelle Gewalt vor keinem Type Frau halt macht.

Das bekräftigt auch Liesbeth Kennes in ihrem Buch ‘Alleen ja telt’ (zu Deutsch: Nur ‘Ja’ zählt). Die Expertin für sexuelle Gewalt betont, dass Rape Myths die Wahrscheinlichkeit verkleinern, dass ein Opfer eine Vergewaltigung als solche erkennt. Sie weißt daraufhin, dass wir mit solchen Mythen den Tätern einen Freibrief ausstellen. Flirtende Frauen, die freiwillig mit jemandem nach Hause gehen? Mit denen darf man scheinbar machen, was man will.

Vielleicht denken wir, wir könnten sexuell grenzüberschreitendes Verhalten zügeln, indem wir solche Stereotypen aufrecht erhalten. Dabei spielen wir hierdurch der sexuellen Gewalt nur erst recht in die Hand.

Sexuelle Gewalt und Selbstverteidigung

Was soll man also machen, wenn man in einer Welt lebt, in der jede dritte Frau mit sexueller Gewalt konfrontiert wird? In letzter Zeit wird die Selbstverteidigung von Frauen stark kritisiert. Der Nirvana-Sänger und proud feminist Kurt Cobain sagte bereits in den frühen 90er Jahren: ‘The problem with groups that deal with rape is that they try to educate women about how to defend themselves. What really needs to be done is teaching men not to rape.’

Victim Blaming

Und das ist natürlich sehr wahr. Die Gesellschaft hat nicht so viel an Tausenden von Kursen zur Selbstverteidigung, wenn man den Männern nicht gleichzeitig beibringt, dass Frauen keine Objekte sind. Dass man Frauen nicht einfach so packen, festhalten und benutzen kann, weil man gerade Lust hat. Und dass eine Frau, die einen kurzen Rock trägt, sich nicht einen Klaps auf das Hinterteil wünscht oder Schlimmeres.

Leider sind wir noch weit davon entfernt, dass alle Männer dies begreifen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Frauen sind immer noch Freiwild, als ob sexuelle Gewalt nicht existieren würde. Das Ermutigen zur Selbstverteidigung ist darum keine Form des Victim Blaming, wie oft von Kritikern behauptet wird.

Sauberer Knock-Out-Schlag

Natürlich, in einer perfekten Welt müssten sich Frauen keine Sorgen über Selbstverteidigung bei einer Belästigung oder Vergewaltigung machen. Diese Welt existiert aber nicht, darum können einige Kenntnisse in Selbstverteidigung durchaus den Unterschied zwischen einem gelungenen oder fehlgeschlagenen Angriff bedeuten. Frauen beizubringen, Grenzen zu ziehen und wehrhaft zu sein ist das Gegenteil von, ihnen zu raten, zu Hause zu bleiben, abends nicht allein auf die Straße zu gehen und keine kurzen Röcke zu tragen.

Es ist natürlich nicht deine Schuld, wenn du dich nicht wehren kannst. Wenn man erstarrt und die Gewalt über sich ergehen lässt. Es ist immer der Täter, der Schuld trägt, nicht du. Du wirst dich auf der Straße und im Club aber ganz sicher etwas wohler fühlen, wenn du weißt, wie du einen sauberen Knock-Out durchführst, sollte er notwendig werden. Und dieses Gefühl von Freiheit ist sehr viel wert.

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