Ist fremdgehen immer die falsche Entscheidung?

Es scheint so einfach zu sein, das Fremdgehen zu verurteilen. Und es gibt dabei sicherlich auch Aspekte, die tatsächlich zu verurteilen sind. Das Fremdgehen ist aber oft wesentlich komplexer und sollte im jeweiligen Zusammenhang gesehen werden, als dass man es sofort pauschal als den größten und schlimmsten Verrat in einer Beziehung aburteilen könnte. Der Aspekt, der immer verurteilenswert ist, unabhängig vom Kontext oder jeglicher Komplexität, ist die Tatsache, dass jemand verletzt wird. Wenn jemand fremdgeht, gibt es automatisch jemanden, der nicht seine Zustimmung gegeben hat, jemand, der sich deswegen traurig und abgewiesen fühlt. Jemand, der die Unsicherheit der Situation ertragen muss, ohne darum gebeten zu haben.

Abgesehen von dieser Tatsache, ist das Fremdgehen allerdings eine so vielschichtige Angelegenheit, dass es sich nicht so einfach verurteilen lässt. Fremdgehen kann man auf sehr unterschiedliche Art und Weise und in großer Diversität, was die Intensität betrifft. Ganz grundlegend definiert man das Fremdgehen als eine Situation, in der einer der beiden Partner (oder auch beide) die Regeln der Beziehung bricht, was intimen und sexuellen Kontakt betrifft. Wie diese Regeln genau aussehen, bestimmt jedes Paar selbst. Die Schwierigkeit ist dabei, dass diese Regeln oft nicht explizit festgelegt sind, bis sich dann eine entsprechende Situation ereignet. Vielleicht bewegen sich die Partner aber auch innerhalb unterschiedlicher Grenzen, was den Kontakt zu anderen betrifft.

Formen des Fremdgehens

Für manche ist die Grenze bereits überschritten, wenn man nur freundschaftlichen Kontakt zu einem Kollegen pflegt, während bei anderen Paaren durchaus ordentlich geflirtet werden darf. Physischer Kontakt ist wiederum für viele die Grenze, per App darf man ihnen aber noch recht erotische Nachrichten schicken. Wieder andere finden es ok, dass man einen anderen küsst, während bei manchen erst die Grenze erreicht ist, wenn es zu sexuellen Kontakten mit emotionaler Bedeutung kommt. Bei alledem sollte man darauf achten, dass man ein Gefühl dafür entwickelt, wo die eventuellen Grenzen verlaufen, aber auch, wie nachsichtig man selbst ist, wenn man gemeinsam die Grenzen auslotet. Ganz ohne böse Absichten. Ohne sich bewusst zu sein, dass der Partner dies vielleicht als Fremdgehen auffassen könnte.

Warum gehen die Menschen fremd?

Die meisten Leute werden sicher sagen, dass deine Beziehung nicht gut war und dass du darum fremdgegangen bist; dass der Sex fehlte, die Anziehungskraft zu schwach war oder man einander zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. In den meisten Fällen, bei denen man fremdgeht, trifft jedoch nichts davon zu. Manchmal geschieht es tatsächlich aus dem Grund, dass man etwas in der eigenen Beziehung vergeblich sucht, was einem ein anderer geben kann. In anderen Fällen kann von einer unsicheren Bindung gesprochen werden, der Unfähigkeit, in eine gesunde Beziehung zu investieren oder sogar von Psychopathologie. Wesentlich öfter ist der Grund aber das ‘Ich’. Wenn man fremdgeht, sagt dies etwas über dich aus. Und zwar nicht, dass du ein schlechter Mensch wärst, sondern dass ein Teil von dir nach irgendetwas auf der Suche ist. Ein Teil von dir sah irgendwo eine Möglichkeit, war neugierig und hatte einfach keine Lust, der Verführung zu widerstehen.

Die Menschen gehen nur selten fremd, um damit den Partner zu verletzen. Dabei handelt es sich einfach um eine sehr unerfreuliche Nebenwirkung. Es gibt auch Menschen, die fremdgehen, ohne sich etwas anderes von ihrer eigenen Beziehung zu erhoffen. Sie können sich kein Leben mit einem anderen Partner als dem eigenen vorstellen. Trotzdem geraten auch sie in Situationen, in denen sie fremdgehen. Das sagt dann also nicht immer etwas über die Beziehung aus, sondern eher etwas über den Kontext, in dem sich die betreffende Person befindet. Nicht selten gibt es gar keinen anderen Grund als ganz einfach: ‘Die Möglichkeit war da, ich kam in Versuchung und machte es einfach’.

Fremdgehen – Erzählen oder verschweigen

Es ist recht schwierig zu entscheiden, ob es besser ist mitzuteilen, dass man fremdgegangen ist oder dass man es lieber verschweigt. In beiden Fällen sollte man sich fragen, welche Folgen es nach sich ziehen wird. Teilst du deinen Fehltritt mit dem Partner, damit du dein Geheimnis nicht länger mit dir herumtragen musst? Dann wird aber dein Partner damit umgehen müssen. Oder behältst du es für dich und lebst mit deiner Schuld, entlastest dadurch aber deinen Partner? Welche Folgen werden beide Varianten für eure mentale Gesundheit und die Qualität eurer Beziehung haben?

Das mit sich Herumtragen eines Geheimnisses dient oft einem Zweck: Wir wollen den anderen nicht verlieren, indem das Geheimnis gelüftet wird. Ein solches Geheimnis zu bewahren fordert aber auch seinen Tribut: Schuldgefühl, Scham und oft auch das Entwickeln von mentalen und sogar physischen Beschwerden. Trotzdem kann man sich eher hierfür entscheiden, als sein Geheimnis zu lüften und dadurch die Beziehung und seinen Partner zu verlieren.

Wenn ihr in eurer Beziehung für vollkommene Transparenz seid, kann man seinen Seitensprung natürlich eingestehen. Man sollte sich aber bewusst sein, welchen Einfluss dies auf den Partner haben wird, auf sein Vertrauen und eure Beziehung. Sei dir bewusst, was du ihm oder ihr sagst und bewahre die Ruhe, damit es genügend Raum für die Emotionen und Fragen des Partners gibt. Begib dich nicht in die Verteidigung, sondern höre deinem Partner zu und sei für ihn da. Übernimm die Verantwortung und schiebe sie nicht auf den Partner oder eure Beziehung ab. Sollte eins von beiden eine Rolle bei deinen Beweggründen gespielt haben, dann könntest du eventuell später in einem Gespräch darauf zurückkommen, zuerst ist aber dein Partner an der Reihe.

Vertrauen

Wurde das Vertrauen beschädigt? Dann sollte man nicht vergessen, dass es bei Vertrauen sprichwörtlich um das ‘Kann ich dir vertrauen?’ geht. Bist du für mich da? Auch wenn ich nicht erst darum bitte? Viel zu oft konzentriert man sich auf das Ausbleiben von Verhalten, das mit dem Fremdgehen in Verbindung steht. Und auch wenn es ganz bestimmt nicht wünschenswert ist, während der ‘Erholungsphase’ wieder Kontakt zu anderen aufzunehmen, so ist es dennoch viel wichtiger, für den Partner da zu sein. Bist du bereit, völlig selbstlos in den anderen zu investieren und ihm zur Verfügung zu stehen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten? Mit einem solchen Verhalten kann das Vertrauen wieder aufgebaut werden. Hierzu sollte man sich bewusst werden, dass  sich das Vertrauen in einer Beziehung aus vielen Dingen zusammensetzt: Kann man sich auf den anderen als Elternteil verlassen? Kann man dem anderen auf finanziellem Gebiet vertrauen? Kann man sich ihm von seiner verletzlichsten Seite zeigen?

Wenn der Partner fremdgeht, wird es sich nach vollkommenem Vertrauensverlust anfühlen. Wenn sich aber der erste Schmerz gelegt hat, sollte man seine Beziehung noch einmal genauer betrachten. Basierte das Vertrauen zwischen euch einzig und allein auf eurer monogamen sexuellen Beziehung oder auf einer wesentlich breiteren Basis, die ihr gemeinsam gebildet habt? Ist wirklich das komplette Vertrauen zerstört oder wurde nur ein Teil davon beschädigt? Wenn man es schafft, die Dinge auf diese Weise zu betrachten, wird der Weg zur Heilung plötzlich möglicher erscheinen, als wenn man den Eindruck hat, dass das gesamte Fundament eurer Beziehung eingestürzt ist.

Fremdgehen – Bleiben oder verlassen

Viele Menschen sagen, dass sie ihren Partner auf der Stelle verlassen würden, wenn er sie betrügen würde, sobald es dann aber tatsächlich passiert, stellen sie fest, dass das gar nicht so einfach ist. Oft gibt es zu viele Dinge, für die es sich lohnt zu bleiben. Und das ist auch nichts, wofür man sich schämen sollte. Man hat schließlich gemeinsam eine Beziehung aufgebaut, und das muss nicht unbedingt komplett wegfallen, wenn einer von euch fremdgeht. Es ist möglich, den anderen noch immer zu lieben, auch wenn man verflucht, was geschehen ist. Man darf auf den Partner wütend sein und trotzdem nach ihm verlangen. Es ist völlig normal, dass sich all diese Emotionen vermischen. Darum sollte man auch im ersten Moment, wenn der Schmerz am schlimmsten ist, keine übereilten Entscheidungen treffen, vor allem dann nicht, wenn Kinder im Spiel sein sollten.

Gönne dir selbst Zeit zum Heilen und versuche anschließend zu fühlen, ob es noch genügend gibt, das man liebt und wofür es sich lohnt zu bleiben. Wenn du auch dann noch immer weggehen willst, solltest du auch gehen. Solltest du aber lieber bleiben wollen, dann ist auch das in Ordnung.

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